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Folge 1: Der erste Angriff

  • Mujasa
  • 25. Feb. 2024
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Feb. 2024


Die Nacht

Der Mond schien klar und weiß und doch konnte sein Frieden den Mann, der in seinem Licht durch die Felder der Salier Dörfer schritt, nicht erreichen. Der Mann nahm kurze, halbe Atemzüge und konzentrierte sich auf seine Verbindung zum Boden und fühlte wie das Leben daraus ihn durchströmte. Dieses Leben konnte die Bedrohung, die sich durch ihr Reich bewegte leider nicht erahnen. Zu bekannt war das Gefühl, zu vertraut war die Sprache, die er sprach.

„Manchmal“, flüsterte er durch die langen Halme hinweg, „kann man das, was man geben kann auch wieder nehmen.“ Bei diesen Worten blieb er stehen, durchströmt von der Energie in seinem Körper, die sich mit seiner Umgebung verband, an ihr Leben heftete und es mit einem ruckartigen Zug aus ihren grünen Hüllen entfernte. Die Blumen senkten ihre Köpfe. Die starken Gräser knickten ein. Der Mann lachte, weil es so einfach war. Um ihn herum blieb es still. Aber es war nicht mehr die sanfte Stille, die einen friedlich stimmt. Es war die Stille, deren Leere einen eindrückt.

Tupo riss die Augen auf. Er war von einem Meer an Schreien geweckt worden, die nun alle verstummt waren. Schnell blickte er auf seinen Nachttisch auf dem er Ping vor dem Schlafengehen gestellt hatte. Als er ihn wohlbehalten neben sich vorfand, entspannte er sich ein wenig. Diese Entspannung war jedoch nur von kurzer Dauer, als ihm bewusst wurde, dass Ping zitterte. Während er seine Hand nach Pings Topf ausstreckte, bemerkte er, dass auch seine Hand unruhig war.

„Alles ist gut Ping, es war nur ein Traum.“

Er legte seine Hand sanft an den Bauch des Topfs und ließ seinen Kopf langsam wieder in sein Kissen sinken. Auch Ping versuchte seine äußeren beiden Blätter zu entspannen. In seinem mittleren Blatt jedoch, saß der Schreck noch zu tief und es dauerte bis er seine Ruhe wieder fand.

Zeitgleich wachte auch Oma aus ihrem tiefen Schlaf und fand sich kerzengerade in ihrem Bett wieder. Sie versuchte das Geräusch, das sie geweckt hatte, zu identifizieren, doch sie konnte es nicht mehr wahrnehmen. Fast zweifelte sie daran, dass es da gewesen war. Langsam hob sie sich aus ihrem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging vorsichtig ein paar kleine Schritte durch die Dunkelheit zu ihrem Fenster. Der Mond erhellte das Feld hinter ihrem Haus und ließ auch ihren Saleba Baum, der mittig wie ein Monument aus der flachen Umgebung ragte, erstrahlen. Es schien ihm gut zu gehen. Beruhigt drehte sie sich um und zog langsam ihre Beine hinter sich her zurück zu ihrem Bett. Als sie wieder darin lag, fiel es ihr schwer wieder einzuschlafen. Ihr Herz pochte zu schnell und ließ ihr keine Ruhe. So, als bereite es sich auf etwas vor.



Der nächste Morgen

Liron hatte tief und fest geschlafen.

Er hatte selten so gut geschlafen, wie letzte Nacht.

Auch Lumi, sein kleines Nagetier, lag entspannt auf seinem Rücken und streckte seine kleinen vier Beinchen dabei unbekümmert in die Luft. Umso unerfreulicher waren also die Laute der Schafe, die ihn von der Weide aus riefen und ihm deutlich machten, dass er wieder einmal spät dran war. Kein Wunder, dass er also abermals vergaß seine Zimmerpflanze zu gießen und stattdessen direkt in seine Kleidung schlüpfte, die noch vom Vortag ausgebreitet auf dem Boden seines Zimmers verstreut lag. Nachdem er sein helles T-Shirt und seine braune kurze Hose angezogen hatte, band er sich noch seinen weißen Stoff um, der einen an eine kurze Toga erinnerte. Diese befestigte er vorne unter seiner Schulter mit einer Blatt-Brosche, die Großmutter ihm einst zum Geburtstag geschenkt hatte und fixierte den unteren Teil mit seinem braunen Gürtel um den Bauch. Während er in seine Sandalen schlüpfte, streckte Lumi seine kurzen Beinchen einzeln aus und offenbarte beim Gähnen seine winzigen Nagezähne.

Sie verließen ihr Zimmer, den Flur und dann das Haus, um schnellstmöglich die Pferde auf die Weide zu lassen und die Schafe zu füttern. Man hatte Liron mit den Bauerntieren betraut in der Hoffnung man könnte ihn so geschickt von den Feldern und der Ernte fernhalten. Diese wurden bereits seit Sonnenaufgang von den Saliern gehegt und gepflegt. Die Salier hatten kein Problem damit früh aufzustehen. Natürlich war ihre Arbeit hart, aber sie freuten sich auch ihre Pflanzen wachsen zu sehen. Sie am Morgen zu begrüßen und zu erfahren, wie ihre Nacht gewesen war, gab ihnen die Energie, die sie in der Frühe brauchten. Nichts gab ihnen mehr das Gefühl verbunden, gebraucht und vor allem zuhause zu sein.

Liron fühlte sich fremd auf den Feldern, obwohl er dort sein ganzes Leben verbracht hatte. Er war ein Kind, das in einer Gemeinschaft aufwuchs, dessen Sprache er einfach nicht lernen konnte. Lumi hatte ebenfalls keine Begabung für die Lehre der Pflanzen oder für die Arbeit auf der Farm. Als Nagetier machte Lumi sich aber nicht viel daraus und genoss die Sonnenstrahlen und die Landluft.

An diesem Morgen waren die Salier jedoch unruhig. Die meisten hatten sich sogar noch etwas früher als sonst auf den Weg zur Arbeit gemacht, da sie befürchteten etwas sei nicht in Ordnung. Sie spürten die Unruhe, die die Wurzeln aus großer Entfernung bis nach Viola getragen hatten.

Tupo war nicht einmal aufgetaucht. Wo war er nur?

Liron vermutete, dass er auf der anderen Seite des Hauses bei dem Saleba Baum ihrer Großmutter war. Seit dem Opa das letzte Mal Viola verlassen hatte, hatte seine Oma zunehmend viel Zeit an der Seite ihres Baumes verbracht. Manchmal verbrachte sie den ganzen Tag in seinem Schatten und Tupo leistete ihr oft Gesellschaft. Liron brauchte eine Pause. Also beschloss er sie dort zu suchen und machte sich mit Lumi auf den Weg über die Weide bis zum Feld auf der anderen Seite ihres Hauses.

In der Ferne konnte er sie schon sehen. Tupos rundlicher Körper, seine weite hellgrüne Latzhose und sein kleiner runder Hut auf seinem mit braunen Locken bedecktem Kopf waren unverkennbar. Auch konnte er Ping erkennen, den Tupo zwischen seinen Händen hielt. Sie unterhielten sich aufgeregt mit Oma, die sich dabei an ihren Gehstock klammerte.

„Guten Morgen!“, rief Liron ihnen auf den letzten Metern zu, „Da seid ihr ja! Lumi und ich haben euch heute Morgen vermisst. Es war super anstrengend alles alleine zu machen, ich hätte deine Hilfe schon gebrauchen können, Tupo!“

„Guten Morgen, guten Morgen. Was bitte soll an diesem Morgen gut sein?“, erwiderte Oma gereizt und fing dabei an ihre Arme nervös hin und her zu bewegen.

Als Tupo realisierte wie ahnungslos Liron war, holte er etwas weiter aus:

„Schau dir einfach mal Ping an. Siehst du wie er zittert? Er ist total nervös. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn je so gesehen zu haben. Seit letzter Nacht kann er sich einfach nicht beruhigen.“

Tupo hielt Ping mit seinen großen Handschuhen fest und streckte ihn so in die Luft, dass es selbst Liron hätte erkennen müssen. Als Oma Lirons fragenden Blick sah, verlor sie die Fassung und schlug ihm kurzer Hand mit ihrem Gehstock auf den Kopf.

„Braune Blätter und blutige Stacheln! Du bist wahrlich der schlimmste Salier, den ich je gesehen habe! Jeder kleine Grashalm in Viola dreht völlig durch und du bist so entspannt wie eh und je. Die Pflanzen sind unsere Familie, Liron. Hör ihnen zu und du wirst sie verstehen, so einfach ist es!“

Während Liron den Schmerz auf seinem Kopf mit seiner Hand zu lindern versuchte, fügte sie hinzu: „Und erzähl mir nicht wieder, dass du es versuchen würdest, du fauler Junge! Manchmal habe ich das Gefühl du bist so ignorant wie ein Vigoras!“

Während der letzten Worte zielte sie mit ihrem Gehstock warnend direkt auf sein Gesicht. Erschöpft setzte sie ihn wieder ab und atmete tief durch. Langsam ging sie auf ihren Baum zu und legte ihre Hand sanft und besorgt an seinen Stamm.

„Ach herrje, es tut mir leid, Liron. Ich bin einfach so besorgt. Fühl Baum doch nur. Sie ist unfassbar verängstigt. Ich frage mich, ob es etwas mit meinen Alpträumen zu tun hat. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, meine alte Dame.“

Tupo wusste auch nicht weiter: „Es ist so seltsam. Ping kann selbst auch nicht sagen, was es ist. Wir haben den ganzen Morgen schon gerätselt, was es sein könnte, aber wir sind ratlos.“



Da weder Oma noch Tupo wussten, was sie tun konnten, geschweige denn, was überhaupt passiert war, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihren üblichen Pflichten nachzugehen. Für Tupo hieß das sich auf den Weg in die Salier Schule zu machen und die jungen Kinder Violas in den Lehren der Pflanzenkunde zu unterweisen. Der Unterricht fand in einem eigenen Gebäude statt, dessen Eingang von zwei großen Bäumen geziert waren, die wie lebendige Säulen links und rechts davon emporragten. Dahinter befanden sich mehrere größere Räume, die für unterschiedliche Unterrichtsinhalte vorbereitet waren. Tupo, der die jüngsten Salierkinder unterrichtete, richtete sich heute im klassischen Schulzimmer ein, das mit Schulbänken und Tischen gefüllt war. Überall standen Pflanzen, die den Raum bewohnten und in der ganzen Schule roch es nach Holz und Heimat.

Tupo war eigentlich noch zu jung um ein Lehrer zu sein, aber wer konnte das schon beurteilen? Er war der geborene Salier und prädestiniert dafür sein Wissen und seine Begeisterung zu teilen.

„Das aller wichtigste ist es die Sprache der Salier richtig zu lernen.“, wiederholte er bedacht.

„Aber Herr Tupo“, gab ein Kind aus der ersten Reihe zurück, „jedes kleine Kind kann doch mit den Pflanzen sprechen. Ich weiß doch jetzt schon ganz genau was Pilzi sagt.“

Dabei schaute das Kind auf den kleinen Blumentopf vor sich in dem ein kleiner brauner Pilz verschmitzt hereinblickte. Er hatte natürlich keine Augen, aber als Kind konnte man es trotzdem deutlich erkennen. Anstatt dem Kind zu widersprechen, fragte Tupo in die Klasse: „Gibt es wirklich nichts mehr zu lernen?“

Auf die Frage hin schossen mehrere Arme gleichzeitig in die Luft. Ein Mädchen aus der zweiten Reihe durfte zuerst etwas sagen. Schüchtern schaute sie zu Tupo hoch und sagte: „Ich möchte noch den Blütensturm lernen. Und die schönen Düfte verstehen. Ich möchte auch noch verstehen, wie meine Blume wachsen kann und dann soll sie ganz groß werden – wie ein Baum!“

Einige Kinder lachten. „So groß wie der Baum von Oma.“, fügte das Mädchen noch leise hinzu. Alle Kinder durften Oma so nennen.

„Ich liebe Omas Baum.“, gab ein etwas pummeliger Junge ungefragt von sich. Viele Kinder nickten und stimmten dem Jungen zu.

„Und Omas Baum, der wunderschöne Saleba, hat so viel zu erzählen, wenn wir nur lernen zu fragen. Wenn wir die Sprache der Salier richtig verstehen,“, fuhr Tupo fort, „können wir das tun. Hat jemand eine Frage an Omas Baum? Was ist mit dir, Sonia?“, fragte er die leise Schülerin in der hinteren Ecke. Beim Antworten hob sie ihren Kopf nicht, aber alle konnten sie gut verstehen.

„Ich würde ihr einfach nur danke sagen, weil sie -“, sie holte noch einmal Luft, „weil sie unser zuhause ist.“

Tupo war gerührt. Die Kinder hatten es wirklich verstanden und Tupo hatte sie gelehrt ihre Pflanzenwelt zu schätzen.

„Lasst uns zum Abschluss gemeinsam das Salier Lied singen!“, sagte Tupo am Ende der Stunde. Die Klasse war hellauf begeistert. Überall sangen die Kinder gerne, auch in Viola. Gemeinsam sangen sie so laut sie konnten:


„Einst wanderte eine verlorene Frau durch den Wald,

Sie war erschöpft, verängstigt und machte an einem Baum halt,

Der Baum war stark und schützte sie gern,

Er hielt sie vom Wind, der Kälte und vom Regen fern.

Sie fühlte sich geborgen, so vergaß sie ihre Sorgen

Und gründete hier eine Familie, baute ein kleines Haus

und vor jedem Essen,

Sang sie zu ihren Kindern, auf dass sie es nie vergessen:

Du gehörst hier hin, weil unser Baum und auch ich hier bin,

Du bist hier zuhaus‘, siehst nur Freunde, wenn du um dich schaust,

Du musst niemals fort, denn es gibt keinen schöneren Ort

Du bist nicht allein, und mit all unseren Freunden, ob riesig ob klein,

wirst du es auch nicht sein.

Du gehörst hier hin.“


Nach dem Singen, gab es für die Kinder etwas zu essen, vielleicht sangen sie auch deshalb so gerne.

Liron saß alleine mit Lumi im Pausenraum und aß sein Brot. Keiner gesellte sich zu ihm. Das Gerücht, dass Lumi ab und zu an den Pflanzen-Partnern knabberte, half nicht. Liron war wieder einmal in seinen Grübeleien gefangen. Bei Tupo sah es so einfach aus!

Jeder kleine Grashalm war bereit ihm seine Lebensgeschichte zu erzählen. Und jedes kleine Kind verstand Pflanzen besser als Liron. Und er hatte es versucht, wirklich.

Aber woran hätte er jetzt noch arbeiten sollen?

Liron verstand Pflanzen überhaupt nicht, kein einziges bisschen und fühlte sich nutzloser denn je.  

Er entschied seine Partnerin die Sabluma aufzusuchen. Wenn jemals doch eine Pflanze zu ihm sprechen sollte, dann würde sie es sein. Schließlich kannten sie sich schon ewig. Liron hatte seine Sabluma damals als kleiner Junge feierlich überreicht bekommen. Sie war ein Abkömmling einer Partner Blume seiner Ur-Großtante oder so gewesen.

Eigentlich sollte er doch zufrieden mit ihr sein. Wie alle Partner Blumen blühte sie das ganze Jahr in ihrer vollen Pracht. Trotzdem besuchte Liron sie nur so selten wie möglich. Er verkraftete es einfach nicht jetzt auch noch eine Blume zu enttäuschen. Und auch wenn sie es ihm ja nicht sagen konnte, bildete Liron sich bei den Treffen immer ein, diese Missbilligung zu spüren.

Heute musste es trotzdem wieder sein. Zumindest kurz um nach ihr zu sehen.

Er lief ein kleines Stück in den Wald und Lumi hüpfte hinterher. Im Halbschatten unter einem kleinen Apfelbaum war sie. Ihre roten Blüten hingen an den leicht gebogenen dunkelgrünen Stilen in alle Richtungen. Liron beugte sich langsam zu ihr herunter und schaute sie an.

„Ich würde sagen, es geht ihr gut.“, sagte er fachmännisch und machte es einzig und allein an der Tatsache fest, dass sie nicht braun war und noch existierte.

Leicht kniend verblieb er vor ihr und wollte es doch noch einmal versuchen. Kurz vergewisserte er sich, dass ihn niemand beobachtete.

„Du schöne Sabluma, erzähl mir doch etwas, irgendetwas.“

Gerade als Liron sie anflehen wollte zumindest eine kleine Nachricht zu senden, schoss ein kleiner Salier Junge aus dem Wald heraus und rannte mit letzter Kraft auf ihn zu. „Liron!“, er war völlig außer Atem, „Da bist du ja! Schnell, komm mit!“

Auch wenn Liron es vielleicht nicht zugegeben hätte, war er nicht froh unterbrochen worden zu sein, weil sein Unterfangen ohnehin sinnlos war. Vielmehr war er froh unterbrochen worden zu sein bevor er wieder hatte scheitern können. Vielleicht hätte sie ja heute zu ihm gesprochen. Hoffen konnte er noch.

„Liron, schnell! Da hinten ist ein Mann, er vergiftet einen Baum – mit einer Schlange!“

Der Junge rannte wieder zurück ohne sich zu vergewissern, dass Liron ihm folgte. Dafür war keine Zeit. Liron hatte deutlich längere Beine und hatte ihn schnell eingeholt. Immerhin agiler als die anderen Salier war er.

Es dauerte nicht lange und schon konnte Liron einen Mann in dunkel gehüllten Kleidern und einer großen Kapuze erkennen, der vor einem Baum stand und diesen begutachtete. An dessen Stamm hatte sich eine schwarze, gigantische Kobra geschlungen, die ihre Fangzähne tief in die Rinde des Baumes gebohrt hatte.

„Bleib hinter mir!“, rief Liron und streckte seinen Arm dabei schützend vor dem Salier Jungen aus.

„Sehr gut, sehr gut.“, zischte der Unbekannte leise, aber auf eine unheimliche Art aufgeregt der Schlange entgegen.

„Lass den Baum in Ruhe, oder ich-“

„Oder was? Du kleiner nutzloser Salier!“, warf er Liron zurück und zog seine Mundwinkel dabei langsam auseinander. Im nächsten Augenblick schossen ohne Vorwarnung kleine spitze Pfeile wie aus dem Nichts haarscharf an Lirons Gesicht vorbei und blieben in der Rinde hinter ihm stecken. Während Liron diese mit seinem Kopf verfolgte, nutze der Unbekannte die Gelegenheit und ergriff die Flucht.

„Wo willst du hin? Bleib hier! Was hast du mit unseren Bäumen gemacht?“

Liron griff nach einer Ranke hinter sich und schleuderte sie gekonnt dem Mann hinterher und erwischte dabei sein rechtes Bein im Lauf. „Du bleibst hier!“

Auf eine impulsive Art und Weise war Liron bereit bei diesem Kampf alles zu riskieren. Vielleicht gerade, weil er mit den Pflanzen nicht sprechen konnte. Er musste sie einfach beschützen, zumindest das. Sie waren doch eine Familie. Während dieser heroischen Gedanken hatte der Mann kurzerhand eine Klinge gezückt und die Fessel durchtrennt. Liron, der sein Gewicht genutzt hatte, um ihn zu stoppen, fiel dadurch im hohen Bogen auf seinen Rücken. Als er seinen Kopf emporhob, waren der Unbekannte und seine Kobra bereits im Wald verschwunden.

Das hätte besser laufen können.    

Das Gift trat weiter ins Netzwerk der unzähligen Ranken und Wurzeln im Untergrund ein und verbreitete sich ebenso schnell, wie die Nachricht seiner Anwesenheit in Viola.

„Ich hätte schneller laufen sollen.“, schluchzte der Junge.

„Wir haben alles getan, was wir konnten.“, beruhigte Liron den jungen Salier und legte dabei seine Hand tröstend auf seinen Rücken.




Die Salier in Viola waren verängstigt. Niemand verstand warum jemand sich gegen sie wenden sollte. Noch nie sei so etwas vorgekommen. Zumindest konnte sich niemand daran erinnern, nicht einmal die Ältesten. Sie schauten in den Himmel und riefen nach Mujasa. Nur Mujasa könne sie retten. Das war jedoch viel mehr eine Redensart als eine tatsächliche Lösung. Schließlich wussten alle, dass es Mujasa nicht mehr gab, oder auch nie gegeben hatte.

Aber man sagte es halt so, wenn man ein Wunder brauchte.

Im Dorf hatte sich das Gift derart ausgebreitet, dass jetzt selbst die Pflanzen betroffen waren, die gar nicht mit der Erde verbunden waren. Wie das möglich war, konnte sich auch Tupo nicht erklären. Hilflos hörte er sich die verzweifelten Bitten der Dorfbewohner an. „Bitte Tupo, hilf ihr! Meine Blume fing heute plötzlich zu welken an! Lass sie nicht sterben, Tupo, bitte! Sie ist doch meine Partnerin!“

Liron sah wie alle auf Tupo zuströmten und beschloss auch seine Hilfe anzubieten. Aber es wollte sie keiner haben. Lieber warteten die Salier auf Tupo und Liron konnte es ihnen nicht einmal richtig übelnehmen. Da er unbedingt helfen wollte, machte er sich auf den Weg nach Hause zu Oma, sie würde bestimmt eine Aufgabe für ihn haben. Als er sich seinem Haus am Rande des Dorfes näherte, konnte er es aus dem Küchenfenster qualmen sehen und wusste sofort, dass Oma etwas in ihrem großen Kessel zusammenbraute. „Gerade richtig. Gerade recht.“, rief Oma ihm entgegen, als Liron das Haus betrat. „Gerade richtig.“, wiederholte sie noch einmal als Liron neben ihr stand und gespannt in den Kessel hineinblickte.

„Das ist das Einzige, was hilft. Glaub mir, das hier hilft. Grüngrauer Regenpilz riecht das gut!“ Dem konnte Liron nicht wirklich zustimmen. Es roch so bitter wie zu lang gezogener Grüntee schmeckte, aber das behielt er lieber für sich.

„Das müssen wir nicht trinken oder?“, vergewisserte er sich vorsichtig.

„Wir? Natürlich nicht. Quatsch, quatsch. Damit gießen wir die Pflanzen! Trinken? So ein Quatsch aber auch.“

Erleichtert atmete Liron auf und bemerkte die vielen kleinen grünen Gießkannen, die Oma aus dem Schuppen geholt haben musste. Ihr wachsames Auge erwischte seinen Blick darauf sofort und sie rief: „Na dann bring sie schon her. Wir müssen sie alle füllen! Dann kannst du sie so vielen Menschen bringen, wie möglich.“

Liron brachte die Gießkannen auf einem Brett zum Kessel und wollte langsam und vorsichtig die erste füllen als Oma ihm die Kelle ungeduldig aus der Hand riss.

„So musst du das machen! So wie du das machst, dauert es ja ewig!“

Geschickt als Meisterin ihres Handwerks hatte Oma in Windeseile ein ganzes Dutzend Kannen gefüllt und überreichte sie Liron auf dem Brett. Ihre Miene wurde kurz ernst als sie ihn anschaute und sagte: „Ich kann nicht versprechen, dass es hilft, aber ich hoffe es sehr. Los Liron, bring sie den Saliern.“

Er nickte und machte sich unverzüglich auf den Weg zurück zur Dorfmitte.

Als es klar wurde, dass die Gießkannen von Oma kamen, zögerten die Salier nicht sie zu nehmen und die Pflanzen in ihrer Umgebung zu beträufeln. Ganz langsam und vorsichtig ließen sie einzelne Tropfen auf sie regnen, damit es für so viele wie möglich reichte. Auch Liron gesellte sich in ihr betretenes Schweigen und bewässerte einzelne Pflanzen in der Nähe des Baumes bei dem es begonnen hatte.

„Das ist alles meine Schuld.“, dachte er dabei und ließ seinen Kopf hängen. Auch Lumi’s langer wuscheliger Schwanz, der normalerweise sein hellgelbes Ende in die Höhe streckte, sank langsam zu Boden. Liron fing gerade an sich wieder einmal in seinen Gedanken zu verlieren, als ein paar Meter von ihnen entfernt ein junges Salier Mädchen freudig aufschrie.

„Ein Sprössling! Ein komplett gesunder Sprössling!“

Der etwas ältere Junge, der sich ein paar Meter entfernt, um die Pflanzen gekümmert hatte, ging neugierig, aber auch argwöhnisch auf sie zu. Er hatte auffällig orangene Haare, die denen des Mädchens glichen.

„Wow, unglaublich!“, rief er ihr sarkastisch entgegen. „Ein Sprössling! Na dann sind wir natürlich alle gerettet. Du bist so dumm, Clara.“

Gerade als die kleine Schwester dabei war eine böse Antwort in ihrem Kopf zu formulieren und die ersten Tränen sich formen wollten, kam Tupo auf sie zu und beugte sich über ihre Schulter, um den Sprössling zu begutachten.

„Er wird uns wirklich retten. Das ist das Einzige, was es überhaupt vermag.“, sagte Tupo aufmunternd und meinte es auch so. „Du bist so clever, Tupo.“, schmeichelte das kleine Mädchen ihm und schielte dabei triumphierend zu ihrem Bruder herüber, der die Augen verdrehte und leise nachahmend vor sich hinmurmelte:

„Ja, so clever.“

Tupo ignorierte die Streiterei der Geschwister und fuhr fort: „Wir sollten nie die kleinsten ignorieren, während wir darauf warten, dass magischerweise ein großer Baum entsteht. Schließlich sind sie es, zu denen wir alle eines Tages aufschauen werden.“

Tupos Mimik veränderte sich und ein Gedanke manifestierte sich in der Form eines Lächelns auf seinem rundlichen Gesicht.

„Wenn dieser Sprössling es schaffen konnte, dann gibt es noch Hoffnung.“

Das kleine Mädchen ließ sich unverzögert anstecken und wiederholte seine Worte noch lauter: „Ja, es gibt Hoffnung!“

Selbst Liron konnte es spüren und seine erschlafften Gesichtsmuskeln schöpften neue Kraft. Nur der Bruder blickte weiterhin nüchtern auf den Sprössling und konnte so erkennen, wie sein grün immer kräftiger wurde und zu leuchten begann. Als er gerade darauf hinweisen wollte, hatten die anderen sich schon abgewandt, denn ein älterer Mann kam aus dem Wald auf die vier zu. Im Gegensatz zu seinem hohen hölzernen Gehstock, war der in braun gekleidete Mann nicht sonderlich groß. Sein dreieckiger Hut und sein brauner Umhang hatten in der vergangenen Zeit so einigen Wetterlagen trotzen müssen und so sahen sie auch aus. An seiner Seite folgte ihm ein Fuchs.

„Opa!“, rief Liron.

„Du bist zurück!“

 

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Nicola Hayward & Kate Narkus

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