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Folge 3: Lumis Licht

  • Mujasa
  • 10. März 2024
  • 13 Min. Lesezeit

Da standen sie nun im Wald. Liron wollte selbstbewusst voranschreiten, als ihm klar wurde, dass gute Führung mindestens zweierlei bedurfte. Man musste den Mut haben, den Weg als erster zu bestreiten und den hatte er zweifelslos. Man musste aber auch wissen, wohin es ging. Und da, das wurde ihm schnell klar, fehlte ihm einfach ein überzeugender Orientierungssinn. Er überlegte kurz, ob er Lumi von seiner Schulter werfen sollte und ihm die Führung überlassen konnte. Aber Lumi hatte sich in seinen winzigen grünen Kapuzenpullover gekuschelt und hing schläfrig und mit letzter Kraft an ihm fest. Tupo fiel auf, dass Liron zögerte die Richtung zu halten.

„Und wie finden wir Mao jetzt?“

„Es geht nicht um Mao. Es geht darum die Salier zu retten… oder so.“

Noch bevor Tupo etwas darauf erwidern konnte, tauchte glücklicherweise Cato auf. Fröhlich setzte er sich direkt vor die beiden und starrte sie mit erwartungsvollen Augen an. „Keine Sorge, Cato, lauf nur los, wir folgen dir schon.“, sagte Liron, der wusste, was dieser Blick bedeutete.

Der Fuchs scherte sich nicht, um den Pfad, den die Menschen über die Jahrhunderte durch stetige Benutzung kreiert hatten. Cato nutzte seine eigenen Wege. Querfeldein lief der Fuchs zwischen den Bäumen hindurch. Liron und Tupo hatten Mühe mitzuhalten. Vor allem Tupo. Er hielt durch, so lange er konnte, aber das war nun einmal nicht sehr lange.

„Ich kann nicht mehr. Ist mir alles egal, ich laufe nicht weiter.“, schnaubte er schwer atmend Liron hinterher, der einige Meter weiter ebenfalls stehengeblieben war. Auch Ping ließ seine Blätter hängen. Ja, Ping war zwar nicht selbst gelaufen, aber er hatte die vielen schweren Sprünge von Tupo abfedern müssen. Außerdem war Ping auch eine solidarische Pflanze.

„Na gut. Wir bleiben kurz stehen.“

„Ich nicht.“, sagte Tupo während er unkontrolliert zu Boden glitt und sich gegen seinen Rucksack lehnend, auf dem Boden ausbreitete. „Das ist wirklich übertrieben.“, fand Liron. Lumi gefiel die Idee jedoch sehr gut. Er hoppelte zu Tupo herüber, sprang direkt auf seinen runden Bauch und machte es sich dort gemütlich. Das gefiel Ping gar nicht. Für eine Topfpflanze war er überraschend eifersüchtig.

„Ich habe gerade keine Energie dafür.“, sagte Tupo, der das natürlich sofort bemerkte.

Er ließ seinen Kopf auf der Rolle über seinen Rucksack fallen und starrte in die umliegenden Baumkronen. Einer der Bäume war besonders groß und überragte alle anderen Bäume der Umgebung.

Tupo schaute ihn an und er konnte den Baum sehen. Ein Salier konnte das manchmal. Das bedeutete, dass sein Gehirn die vielen einzelnen Äste und tausende Blätter nicht einfach auf das Konstrukt Baum reduzierte. Er konnte ihn betrachten, ohne dass der Baum simplifiziert werden musste. Der Baum blieb komplex, unüberschaubar, ein Wunderwerk, ein Labyrinth aus unzähligen Wegen, die sich immer wieder trennten und die allesamt von Blättern geschmückt waren, von denen keines einem anderen glich. Tupo sah so viel, er hätte den Baum stundenlang betrachten können. Er neigte seinen Kopf und machte eine kaum erkennbare Verbeugung. Ohne darüber nachzudenken, zollte er der Natur seinen Respekt. Er wünschte, Liron könnte es auch sehen. Er hatte es ihm schon unzählige Male zu zeigen versucht. Aber für Liron würde es immer nur die Idee eines Baumes bleiben. Und das war okay.

„Genug Bäume geguckt, es geht weiter. Sonst ist Cato gleich wieder weg.“

„Cato ist immer da oder weg, wie er es gerade möchte. Da ist es auch egal, wie lange ich Pause mache.“

„Tupo!“

„Ist ja gut, ich komme ja schon. Los Lumi, wir müssen weiter.“

Tupo raffte sich wieder auf in dem er etwas unbeholfen zu seiner Seite rollte, bevor er sich wieder hinstellen konnte. Cato hatte auf sie gewartet. Etwas langsamer ging er nun voran, wobei er wie ein Hirtenhund darauf achtete die Gruppe beisammen zu halten. So verging einige Zeit in der keiner etwas sagte. Als Tupos Wunsch sich wieder auf den Boden zu legen gerade einen neuen Höhenpunkt erreicht hatte, blieben sie plötzlich stehen.

Aus dem Nichts baute sich plötzlich ein gigantischer Baum auf, der gleichzeitig auch ein Salierhaus war, größer als alle, die sie je gesehen hatten. Tupo kannte diese besondere Baumart, dessen Stamm im unteren Drittel hohl war und Saliern schon zu Anbeginn ihrer Zeit ein Zuhause geboten hatte. Diese Salierfamilie hatte sich mit ihrem Haus verbunden. An den Ästen hing ihre Wäsche. Weitere Bretter führten um den Stamm herum in die Höhe und wurden durch Ranken begleitet, die ein Geländer bildeten. Fenster wurden aus natürlichen Löchern des Stamms gefertigt und eine Vielzahl von kleinen Blumentöpfen, die überall an und um den Baum befestigt waren, rundeten das Bild ab. Während sie das Haus bestaunten, verschwand der Weg hinter ihnen auf dem sie gekommen waren. Tupo spürte die Präsenz der näher rückenden Pflanzen sofort.

„Li? Der Pfad hinter uns ist verschwunden.“

Als Liron sich umdrehte, knarrte es zeitgleich an der sich öffnenden Tür des Hauses.

„Hallo Jungs! Ihr seht müde aus. Warum kommt ihr nicht rein und stärkt euch ein wenig. Ich habe den Tisch soeben gedeckt.“

Die Salierfrau sah den Dorfbewohnern aus Viola nicht unähnlich. Auch sie trug braune Stiefel, funktionale Kleidung und eine Bauchtasche, in der vermutlich Handschuhe, ein kleiner Spaten oder einige Proben Platz fanden. Aus ihrem Hut, der anscheinend auch ein schmaler, tragbarer Blumentopf war, ragten zwei Efeublätter heraus. Sie wirkte nicht gerade bedrohlich.

„Oh, ja, bitte! Komm Liron, wir wollen nicht unhöflich sein.“

Liron war skeptischerer Natur.

„Denkst du wirklich, dass das eine gute Idee ist? Wir wissen nicht einmal wer sie ist.“

„Naja, Cato hat uns hierhergebracht, also lass es uns herausfinden!“

Tupo war hungrig.




 

Am Esstisch

„Lasst es euch schmecken!“, sagte die Frau, als alle am Tisch Platz genommen und der Eintopf aufgetischt worden war. Selbst Ping hatte einen Hocker bekommen, auf dem er neben Tupo liebevoll am Tisch platziert worden war. Ping fand das sehr angemessen.

„Ich bin Raka und wohne hier mit meiner Tochter Elma“, sagte die Frau und zeigte zu ihrer linken, wo ein Mädchen mit roten Strubbelhaaren gierig zulangte, „und Gup meinem Sohn, der es vor lauter Training mal wieder nicht pünktlich zum Essen geschafft hat.“

Tupo führte einen weiteren Löffel Eintopf zu seinem Mund und bemühte sich noch rechtzeitig seine Dankbarkeit auszusprechen, bevor das Essen ihn erreicht hatte.

„Vielen Dank für die Einladung. Es schmeckt köstlich. Ich bin übrigens Tupo und das ist Liron, mein Cousin.“ Liron schaute misstrauisch. Tupo konnte nicht fassen, dass er nicht einmal versuchte einen freundlichen Eindruck zu machen.

„Das habe ich mir fast schon gedacht. Damals als ich noch auf einer Farm in Viola gearbeitet habe, wart ihr noch ganz klein.“

„In Viola?“, schmatzte Tupo fragend.

„Ja, genau. Ich kenne eure Großmutter schon seit ich geboren bin. Aber die Farmarbeit war nicht das richtige für mich, für uns.“ Sie fuhr mit ihrer Hand durch die garstigen Haare ihrer Tochter. Ein Wunder, dass sie nicht hängen blieb. „Hier können Gup und Elma zwischen den Bäumen aufwachsen, so wie es die Salier Jahrhunderte lang gemacht haben. Also bevor die Vigoras sie zu ihren Farmern machten.“

Ich hasse diese Farmarbeit, dachte Liron. „Ich bin auch kein großer Freund davon, aber so können wir unsere Fähigkeiten einsetzen und für alle sorgen.“, erklärte Tupo.

„Ja, das verstehe ich. Ich frage mich nur, ob wir dabei wirklich unsere Fähigkeiten ausschöpfen. Schließlich sind der Weizen und das Gemüse keine Kaniteca. Ja, wir sind alle sehr talentiert, wenn es um die pflanzliche Landwirtschaft geht, das ist richtig. Aber einige von uns haben auch andere Talente.“ Liron horchte auf.

„Einige von uns können die Sprache der Salier wirklich meistern.“

Lirons Hoffnung hatte eine sehr kurze Lebensdauer gehabt.

„Einige können sich auf eine Art mit den Salier Kaniteca verbinden, dass sie eine Stärke erlangen, die die Vigoras uns lieber vergessen lassen möchten. Aber es kommen Zeiten und sie kommen sehr bald, da werden wir genau diese Stärke brauchen.“

Selbst die Salierfrau wusste von dieser Sache, dachte Liron. Er fühlte sich so ausgegrenzt, dass er nicht einmal nachfragen wollte. Ping hingegen, schien begeistert. Er streckte seine drei Blätter in die Höhe. Auch Tupo war interessiert. „Was für eine Stärke?“, fragte er. Raka lächelte. „Gup trainiert, wie gesagt, jetzt gerade bei seinem Salevan. Wollt ihr ihn kennenlernen?“ Tupo klatschte seine in Handschuhen gekleideten Hände auf den Tisch, drückte sich von diesem hoch und rief: „Das klingt fantastisch! Wir würden ihn sehr gerne kennenlernen!“ Liron schaute wenig überzeugt zu ihm hoch.

 

Gup beim Training

Gup hatte die Augen geschlossen. Er verlagerte sein Gewicht auf ein Bein ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Durch die Konzentration seines Gewichts auf einem Fuß, spürte er die Verbindung zum Boden umso stärker. Er stellte sich vor, wie sein Körper sich unter der Erde ausbreitete und Wurzeln schlug. Gedanklich tastete er so lange im Boden umher bis er seinen Salevan, namens Hain, aufspürte.

Da bist du ja, dachte er erfreut.

In seiner Vorstellung fing die Verlängerung seines Fußes an sich zu bewegen und zeigte den Wurzeln von Hain den Weg. Er fühlte, wie seine Fußsohle sich in den Boden drückte, als wolle sie zu ihm gehören. Langsam wuchsen die Wurzeln von Hain aus der Erde heraus. Sie fanden Gups Bein und umschlangen es. Dann drückten sie sich vorsichtig in seine Haut und übten einen leichten Zug auf das Bein aus. Wie ein Krake, die ihre Beute zu sich hinterziehen will. Aber Gup hatte nichts zu befürchten. Der Zug gab ihm Halt und er konnte seine Arme nun frei über seinem Kopf bewegen. Ehrlicherweise musste man für diese Übung weder seine Arme über dem Kopf kreuzen, noch erforderte sie, dass die Äste des Salevans sich überirdisch in einer Helix formierten. Aber es half Gup und Hain die Bewegung der Wurzeln zu kontrollieren. Außerdem sah es ziemlich cool aus.

Fanden zumindest die beiden – und Tupo natürlich.  

Ein weiterer Strang der stetig wachsenden Wurzeln durchbrach die Erde an Gup vorbei bis hin zu der Vogelscheuche, die gleichzeitig auch einen Sparringspartner darstellte. Gefährlich wuchs sie an ihm hoch und umschlang sie wie eine Spinne, die ihre Beute in ihren Faden dreht. Gup konnte es an seinem Bein spüren. Hain war bereit. In einer ruckartigen Bewegung entlud Gup seine angestaute Energie, trat mit seinem zweiten Fuß auf den Boden und drückte seine Handflächen nach vorne. Die Vogelscheuche zersprang in unendlich viele Einzelteile.

Liron konnte nicht fassen, dass es auch solche Übungen gab. Dass seine Saliererfahrungen sich darauf beschränkten neben seiner Sabluma Platz zu nehmen und ihr zu sagen, wie schön ihre Blüten waren, würde er heute für sich behalten.

Gup streckte seine linke Hand in die Höhe und Hain klatschte mit einem seiner Hauptäste ein.

„Was?“, rief Tupo mit weit geöffnetem Mund,

„Ich wusste nicht, dass Salier so etwas können! Kannst du uns das beibringen?“

„Ist aber auch nicht so wichtig, oder Tupo? Er sieht ziemlich beschäftigt aus.“, entgegnete Liron.

„Was ist denn los, Li? Das könnte uns wirklich noch von Nutzen sein.“

„Ja, es ist nur…“

Als Liron krampfhaft versuchte einen plausiblen Grund zu finden, rief Raka auch schon: „Großartige Idee! Gup, mein Schatz, würdest du Tupo ein paar Grundübungen zeigen?“

„Klar, Mama.“

Gup winkte einladend zu Tupo herüber und dieser lief sogleich voller Enthusiasmus auf ihn zu. Als er außer Hörreichweite war, sagte Raka zu Liron: „Komm Liron, ich habe das Gefühl du bist nicht ganz so interessiert an diesen Tricks wie Tupo. Ich glaube, ich kann dir etwas zeigen, was du spannender finden wirst.“

„Naja, ich weiß nicht so genau. Ich bin kein richtiger – ich meine, ich war noch nie wirklich gut in diesen Dingen, also noch nie.“

„Die Salier Schule kann nicht leicht für dich gewesen sein, oder?“

„Nein… ich kann mich an keine einzige Stunde erinnern in der ich gut gewesen wäre.“

 




Lirons Erinnerung

Er erinnerte sich nicht an viele Details. Er wusste nicht mehr genau, wer was gesagt und was Lumi wirklich getan hatte. Die Erinnerung jedoch, an das, was er damals gefühlt hatte, war so präsent, dass sie ihn wie der Krake mit seinen vielen Armen aus Wurzeln mit sich riss. Nur gehörte Liron eben nicht in dieses Wasser. Warum war das Gefühl in seiner Erinnerung so lebendig geblieben? Das lag vielleicht daran, dachte er, dass man seine Gefühle jederzeit noch einmal durchleben konnte. Man konnte immer wieder den Fluss hinunterfahren. In diesem Moment tat er es. Es war die Angst vor einer öffentlichen Prüfung, bei der alle zuschauten und die er nicht bestehen konnte. Alle seine Fluchtinstinkte bettelten ihn an zu gehen.

Die Lehrerin war fröhlich gewesen und die Stimmung in der Klasse ausgelassen. Denn niemand wusste von dem Angriff aus der Tiefe, den Liron still und heimlich abzuwehren versuchte. Es war in der Stunde des Flugs der Blütenblätter passiert.

Er erinnerte sich nicht daran, aber es muss wunderbar bei Tupo funktioniert haben. Und auch bei den anderen Schülern. Er konnte sich nicht daran erinnern, weil er in diesem Moment zu beschäftigt damit gewesen war, festzustellen, dass seine Sabluma vermutlich gerade gestorben war. Nein, ermordet, beziehungsweise aufgefressen.

Es war brutal gewesen. Lumi hatte einfach in sie hineingebissen.

Alle waren schockiert.

Ein Junge schrie entsetzt: „Sie ist tot! Tot!“

Oder so ähnlich. Liron fühlte zu viel in diesem Moment. Er wollte von einer Welle erfasst und mitgerissen werden. Hauptsache weg.

Die Lehrerin hatte die Schüler beruhigt in dem sie erklärt hatte, die Sabluma würde nachwachsen. Wie unter Wasser hörte er jemanden verschwommen sagen:

„Das hat er bestimmt mit Absicht gemacht. Weil er es mal wieder nicht hinbekommt.“

Lirons Scham wurde von seiner Wut zur Seite gedrängt. Es war doch alles Lumis schuld. Er hatte Lumi angeschrien. Mit jedem Wort, das er brüllte, ließ er dann jedoch etwas von seinem Zorn entweichen. Lumi zog seinen Kopf zurück und schaute ihn traurig und voller Reue an. Lirons Herz ging sogleich auf. Er wollte ihn nicht traurig sehen, das war schlimmer als alles, was er fühlte. Langsam führte er seine Stirn an die seines Freundes. Für einen kurzen Moment konnte er seinem Umfeld entkommen und alles war ein wenig besser.

 




Zurück in der Gegenwart

Raka nahm Liron ein kleines Stück zurück in den Wald mit. Als sie das Haus und Gups Trainingsgelände hinter sich gelassen hatten, erklärte Liron vorsichtig:

„Meine Partnerin, die Sabluma und ich, hatten nie wirklich eine starke Verbindung.“

„Hast du je darüber nachgedacht dein wahres Kanimal zu finden?“

„Mein wahres Kanimal? Was meinst du damit? Ich bin ein Salier. Das hat mir meine Großmutter gesagt und sie weiß so etwas. Und außerdem, meine Sabluma ist meine wahre Partnerin. Ich habe sie bekommen, als ich noch ganz klein war. Sie ist von meiner Ur-Großtante. Wir hatten eine offizielle Zeremonie und so.“

„Oh, eine offizielle Zeremonie. Das ändert natürlich alles. Also, wo ist sie jetzt?“

„Umm, ich habe sie eventuell in Viola vergessen.“

„Ah, mach dir keine Sorgen. Ich höre immer wieder von Leuten, die ihre Partner vergessen. Das ist ganz normal.“

„Wirklich?“

„Nein.“

 

Raka blieb stehen und zeigte auf einen Baum. Liron konnte es nicht erkennen, aber es war ein besonderer Baum, ein uralter Saleba, den die Salier dieses Waldes schon über Generationen besucht und um Rat gebeten hatten.

Für Salier waren so alte Bäume vor allem aufgrund ihres Verständnisses von Zeit so bedeutsam. Zeit war immer schon für Menschen aller Völker ein schwer zu begreifendes Konzept gewesen. Wo andere Völker jedoch einen wissenschaftlichen Ansatz bevorzugten, um das geheimnisvolle Mysterium zu untersuchen, hatten Salier stets einen intuitiveren Ansatz gewählt. Über die Verbindung, die sie zu so alten Bäumen aufbauen konnten, hatten die Salier ein Gefühl für Jahrhunderte entwickelt, das den meisten anderen Völkern verborgen geblieben war. Es beruhte auf dieser Gewissheit, dass etwas überdauern konnte, dass etwas beständig sein konnte. Wie das Gefühl, wenn man einen alten Freund wiedertrifft, den man seit Jahren nicht gesehen hat und voller Erleichterung und Herzenswärme feststellt, dass man ihn noch erkennt. Man fühlt es, wenn man gemeinsam lacht und das Lachen noch dasselbe ist. Das Gefühl ist Heimat und das Gefühl ist der Ursprung der Sprache solcher alten Bäume.

„Setz dich da drüben hin. Dort wo die Wurzeln einen Kreis formen. Ich habe das Gefühl Lumi wird dir helfen können.“

„Wie sollte Lumi mir helfen können? Er ist auf jeden Fall kein Kanimal. Ich habe noch nie von einem Nagetier Kanimal gehört.“

„Und du hast ja schon von allem gehört“, sagte Raka ironisch. Liron fand es nicht sehr nett.

„Aber sollten wir nicht eine besondere Verbindung haben? Ich meine, sollte ich nicht mit ihm sprechen können?“

„Habt ihr keine besondere Verbindung?“, fragte Raka und lächelte wieder freundlicher.

„Naja, ich denke irgendwie…“

Raka geleitete Liron mit ihrer Hand auf seinem Schulterblatt in die richtige Richtung. Unsicher setzte er sich zwischen die Wurzeln des gigantischen Baums. Lumi folgte ihm und sprang in seine Arme, bevor er in Lirons Schneidersitz Platz nahm.

„Sehr gut. Jetzt schließ deine Augen.

Denk an eure gemeinsame Zeit.

Und fokussiere dich auf eure Verbindung.

Wie sieht sie aus?“

Liron schloss seine Augen und fing an, sich in seine Gedankenwelt zurückzuziehen. Er dachte daran, wie Lumi auf ihn zu lief, wenn sie tagsüber getrennt gewesen waren. Er spürte die konditionslose Freude, die ihm jeden Tag dabei geschenkt wurde. Er dachte daran, wie Lumi ihn morgens anschaute, wenn sein Gesicht noch ganz zerzaust war und er seine winzigen Beinchen nacheinander in die Luft streckte. Der Blick sagte ihm, dass es ein neuer gemeinsamer Tag sein würde und dass Lumi ihm folgen würde, egal wohin. Hauptsache sie könnten den Tag gemeinsam verbringen. Wann immer er in seinen Erinnerungen zu seiner Seite schaute, war Lumi da und das Gefühl, welches er dadurch empfand, war hell, war… ein Licht.

Liron öffnete seine Augen und starrte erschrocken auf seine Hände. Sie leuchteten. Auch Lumi umgab ein warmes Licht.

„Wow! Was auch immer das für ein Trick ist – ich liebe ihn!“

„Tupo, schon zurück? Perfektes Timing.“, entgegnete Raka.

Liron und Lumi starrten noch zu fasziniert auf ihre Arme, obwohl das Licht mittlerweile erloschen war.

„Was war das für ein Licht?“, fragte Tupo neugierig.

Was weiß ich, was das für ein Licht war, alles was ich weiß, ist, dass ich es erzeugt habe!

„Unendliche Kraft!“, rief Liron übermütig und streckte seine Arme triumphierend in die Höhe. Raka schlug sich leicht mit ihrer Hand an die Stirn.

„Vielleicht war das doch keine gute Idee“, sagte sie leise zu Tupo, aber auch zu sich selbst,

„Ich weiß nicht, ob er bereit ist damit umzugehen… Mit dieser Energie oder überhaupt mit einem Erfolg, aber er hatte anscheinend auch noch nicht viel Übung darin.“

Tupo fand, dass es besser war dieses Thema nicht weiter zu vertiefen und entschied, dass er nun an der Reihe war, seine Künste zu präsentieren.

„Na gut! Wir sind dran! Macht euch bereit für das, was Ping und ich heute gelernt haben!“

Demonstrativ überschwänglich gestikulierend stellte er Ping und seinen orangenen Topf auf die Erde neben sich. Einen halben Meter links davon positionierte er sich mit dem Großteil seines Gewichts auf seinem linken Bein und einem kleinen Teil auf dem Ballen seines rechten Fußes. Etwas zu laut atmete er langsam zwei Mal ein und aus, bevor er seine Augen schloss. Den rechten Arm austreckend und den linken Arm in einem rechten Winkel in die Luft hebend, kopierte er die Blattposition, die Ping eingenommen hatte. Jetzt geschah eine Zeit lang nichts. Liron guckte verwirrt in Rakas Richtung, aber sie gab ihm mit einer Handgeste zu verstehen, dass er sich gedulden musste. Er schaute auf die Erde zwischen Tupo und Ping, wo sich die Grashalme an der Oberfläche langsam auseinanderbogen. In Zeitlupe stiegen aus der Erde drei winzige Halme empor an denen jeweils ein ahornartiges Blatt befestigt war. Tupo und Ping präsentierten ihr Wunderwerk stolz.

„Das war’s?“, fragte Liron.

Beleidigt, verschränkten Tupo und Ping synchron ihre Arme.

„Dir ist schon klar, dass wir das eben gerade erst gelernt haben?“

„Du hast Recht, Tupo!“ Liron legte seinen Arm um seine Schulter.

„Wir fangen gerade erst an!“

Während die beiden ihre ersten Erfolge feierten, schlich Cato unbemerkt aus dem Wald heraus auf sie zu. Es war Zeit nach Robura zu reisen.

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Nicola Hayward & Kate Narkus

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